Dienstag, 26. Mai 2015

#171

WOLLTEN SIE DICH EINSPERREN IN IHREN KAKTUSGARTEN

konnten sie damit nicht warten?



Du weinst. Weil du nicht schlafen kannst, verlässt du dein Kinderzimmer und läufst in das Zimmer deiner Mutter. Deiner heiß geliebten Mutter. "Mama" war dein erstes Wort. Du liebst sie, weil sie deine Mutter ist, weil sie deinen Alltag bestimmt. Doch anstatt dir etwas vorzusingen oder mit dir zu kuscheln, hast du sie erboßt. Du dummes Kind. Sie beginnt zu brüllen. Draußen ist es schon längst finster. Die Anschuldigungen würden dich viel mehr verletzen, wenn du die Worte verstehen könntest. Doch du hörst nur das Brüllen. Das Zuknallen der Türen lässt dich abermals hochschrecken und du fürchtest dich. Beginnst wieder zu weinen. Doch du wirst nicht gehört. Du musst schlafen. Und irgendwann schläfst du dann auch. Doch das was du träumst, das kannst du uns noch nicht schildern. Irgendwann willst du es uns gar nicht mehr erzählen, denn dein Flehen und dein Weinen bleibt unerhört. Irgendwann wirst du schweigen. Die Verletzungen und Schmerzen deiner geliebten Mutter stumm ertragend. Irgendwann wirst du gebrochen sein. Irgendwann wirst du nicht mehr dieses fröhliche, lachende Kind sein. Du wirst vielleicht noch lachen, doch innerlich wird es dich zerfressen. Und irgendwann - ja irgendwann - wenn du deine Gefühle bewusst wahrnehmen kannst. Wenn du ihnen einen Namen geben kannst - oder nach einem Namen suchst. Wenn du auch noch erwachsen sein solltest. Dann wirst du zu mir kommen. Du wirst mir die Mitschuld geben. Dafür, dass wir weggesehen haben, wenn du geweint hast. Dafür, dass wir stumm ihr Schreien ertragen haben. Dafür, dass wir nicht für dich Worte gesucht haben. Dafür, dass wir das alles zugelassen haben. Ich trage Schuld daran, dass ein Kind Schmerzen hat. Ich trage Schuld daran, dass ein Mensch sich im Leben nicht zurecht finden wird. Ich trage Schuld daran, dass ein Kind vielleicht einmal so traurig sein wird, wie ich es manchmal bin. Ich trage Schuld - ich bin schuld - weil ich nichts getan habe. Weil ich wegsehe. Weil ich weglaufe. Weil ich Angst habe. Weil ich genausoviel Angst vor deiner Mutter habe, wie du vielleicht irgendwann haben wirst. Doch du bist ein Kind. Ich bin erwachsen. Du bist stark. Ich bin schwach. 



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