Sonntag, 26. Januar 2014

#105

DIE WELT SOLL MICH NICHT SCHREIEN HÖREN

die Welt soll mich singen sehen

 

 

Das Mädchen rührt lustlos in ihrem Kakao mit Schlagobers, starrt dabei durch die Glasfront. Menschen schlendern vorbei, eine Frau rennt mit zwei Koffern zu einer Rolltreppe. Das Mädchen hört den beiden betrunken Jungs zu, zwei Tische weiter scheinbar viel Spaß hatten, bis der eine dem anderen seine Milch über den Kopf schüttet und ein anderer Gast sie deswegen zurechtstutzte. Sie ziehen beide ab und das Mädchen sieht ihnen lange hinterher. Der Kakao wird kalt. Der Bahnhof um 5:oo Uhr morgens ist ein interessanter Ort, voller Leben und Verschwendungen.
Was war diese Nacht? Bereicherung? Verschwendung?

Stunden vorher sitzten das Mädchen und der entschlossene Spieler zusammen an der Bar und unterhalten sich wieder. Die ausgelassene Stimmung ist wegen einer unliebsamen Begegnung, die das Mädchen gemacht hatte, etwas gesunken und der entschlossene Spieler sieht sie nachdenklich an. Ihre Finger gleiten immer wieder über den Ring, den sie am Boden gefunden hat. 
"Kennst du das?", fragt sie ihn dann, er sieht sie aufmerksam an und sie legt eine Pause ein um von ihrem Wasser zu nippen. "diese Menschen...du triffst sie immer wieder und sie erinnern dich jedes Mal daran...", ja an was denn? "...an all die Fehlentscheidungen, die du je gemacht hast?"
Sie kann ihn nicht ansehen, doch sie weiß, dass er nickt. Es wird wieder still um die zwei, die Bar leert sich. 
"Weißt du was? Ganz ehrlich!", fängt er dann plötzlich an und sieht sie ernst an, "Hör auf dir immer Menschen zu suchen, die dich so runterziehen. Such dir Menschen, wie ich es bin." Und mehr muss er gar nicht sagen, denn er hat Recht. "Aber es ist so schwer, und es geht alles viel zu langsam voran.", seufzt sie und hasst sich für ihr Selbstmitleid. Er legt seine Hand auf ihre Schulter und lächelt sie an. "Ja und? Du bist zwanzig. Du wirst dich immer wieder verändern, aber du musst es auch wollen und zulassen."

Das Mädchen nimmt einen Schluck von ihrem Kakao, die Zeit scheint wie im Fluge zu vergehen und Menschen gehen in der kleinen Bäckerei im Bahnhof ein und aus. Sie verliert sich in ihrer Melancholie, denkt über die Worte des Rothaarigen nach, als ihr plötzlich die Worte des großen Bruders in den Sinn kommen, die er in der Reitstunde zu einem anderen Mädchen gesagt hatte. Ein Lächeln ziert nun ihr Gesicht und sie weiß, dass sie auf dem Weg ist. Vielleicht noch nicht auf dem Besten, aber es geht voran. 

"Siehst du das Mädchen? Wie gut ihr Pferd läuft? Das ist nicht einfach so, weil es so ist. Sie hat jeden Tag hart dafür gearbeitet, Ställe ausgemistet, jeden Tag im Sattel gesessen und dann auch noch jeden Tag, egal bei welchen Wetter und wie müde sie war, mit de Fahrrad nach Hause gefahren. Ich war so genervt von ihr, hab ihr so viele Steine wie möglich in den Weg gelegt, damit sie endlich verschwindet. Was hat sie gemacht? Sie hat nicht gejammert, sie hat die Zähne zusammengebissen und sie durchgeboxt. Sie hat sich nicht nur den Respekt dieses Pferdes erkämpft, sondern auch meinen. Sie hat sich das verdient!"
-der große Bruder-

In dem Moment war mir noch nicht klar, was er damit meinte. Heute könnte ich anfangen zu flennen, weil ich so gerührt bin.  



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